Erklärung für das scheinbare Kälteparadox
Bibbern trotz Erwärmung: Warum extreme Kältewellen und Klimawandel kein Widerspruch sind
Noch um die Jahrtausendwende meinten manche Klimaforscher, dass es in vielen Skigebieten schon bald keinen Schnee mehr geben würde. Stattdessen erleben wir weltweit weiterhin immer wieder extreme Kälteperioden und auch in diesem Winter versanken nicht nur Teile Deutschlands teils tief im Schnee. Wie passt das zusammen?
„The Day After Tomorrow“ lag nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch
Nicht alle werden die teils heftigen Kältewellen vergangener und des aktuellen Winters überraschen: Schon in dem Blockbuster „The Day After Tomorrow“ wurde im Jahr 2004 das Szenario einer neuen Eiszeit durch die Unterbrechung der atlantischen Ozeanzirkulation aufgrund der Eisschmelze in den Polarregionen entworfen. Ähnliches geschah beim sog. Younger-Dryas-Event vor etwa 8200 Jahren, wobei das genaue Ausmaß noch umstritten ist. Inzwischen ist die Klimaforschung aber etwas weiter und auch die Beobachtungen der letzten Jahre weisen uns auf eine wohl etwas andere Zukunft hin: Eine sich erwärmende Welt, in der zunehmend extreme Hitzewellen aber trotzdem immer wieder auch heftige Kältewellen auf der Tagesordnung stehen.
Dafür sind inzwischen mehrere Gründe bekannt, die wie letztlich alles im hochkomplexen Klimasystem auch miteinander zusammenhängen. Eines gleich vorweg: Extreme Kältewellen sind kein Argument gegen die Klimaerwärmung. Im Gegenteil, sie können sogar mit der globalen Erwärmung zusammenhängen, auch wenn das auf den ersten Blick völlig paradox erscheint.
Hier eine kurze Übersicht der wichtigsten Gründe und anschließend die Erklärung der Zusammenhänge:
- Arktische Meer- und Festland-Eisschmelze
- Höhere Meerestemperaturen
- Immer instabilerer arktischer Polarwirbel
- Stärkere Hoch- und Tiefdruckgebiete
Kältewellen werden fast immer überkompensiert

Blicken wir auf die globale Wetterlage, werden selbst extreme Kältewellen fast immer durch noch extremere Hitzewellen andernorts mehr als ausgeglichen. Solche Hitzewellen finden auch derzeit statt, etwa in Grönland, Ostrussland, Kanada und Alaska, wo es zum Teil bis zu 30 Grad wärmer ist als für die Jahreszeit normal.
Dass Klimaerwärmung nicht bedeutet, dass es nicht in Deutschland oder anderswo auch mal kalt wird, ist relativ offensichtlich: Die Temperaturen schwanken zeitlich und räumlich sehr stark. Außerdem nehmen extreme Hitzerekorde global wie in Deutschland deutlich an Häufigkeit zu und das auch im Winter, während Kälterekorde eher selten geworden sind. Aber sie sind auch in immer wärmeren Wintern eben immer noch möglich und das paradoxerweise sogar teils wegen der Klimaerwärmung.
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Strauchelnder Polarwirbel lässt uns immer wieder bibbern

Dass uns selbst in Deutschland auch heute noch immer wieder extreme Kältewellen mit Temperaturen bis unter -20 °C erwischen, hat zum einen mit dem arktischen Polarwirbel und mit der Verteilung von Ozean und Land auf der Nordhalbkugel zu tun. Der Polarwirbel bildet sich im Winter in der unteren Stratosphäre wegen des enormen Temperaturunterschieds zwischen den eisigen Polarregionen und niedrigeren Breiten und umspannt die gesamte Halbkugel.
Auf der Südhalbkugel ist der Polarwirbel allerdings deutlich stabiler als auf der Nordhalbkugel. Das liegt vorwiegend an der Verteilung von Ozean und Landmassen. Während die Antarktis eine nahezu symmetrisch um den Südpol verteilte Landfläche aufweist, auf der kilometerdicke Eispanzer liegen, befindet sich am Nordpol der arktische Ozean mit nur einer relativ dünnen Eisschicht.
Meeresströmungen können vom Nordatlantik aus sehr viel Wärme in die Arktis transportieren. Während es in der Antarktis im Winter regelmäßig bis zu -80 °C kalt und noch kälter werden kann, gibt es deshalb in der Arktis nur selten Temperaturen unter -50 °C. In den vergangenen Jahren gab es gelegentlich sogar am Nordpol mitten im Winter Temperaturen über null Grad und das arktische Meereis geht drastisch zurück, was zu noch schnellerer Erwärmung führt.
Stärkere Luftmassenwechsel können große Temperaturschwankungen auslösen

Ist der Polarwirbel weniger stabil und wird durch Energiezufuhr von außen zusätzlich gestört, kann er deutlich verschoben, verformt und geschwächt werden. Manchmal kommt es auch zum sogenannten Polarwirbel-Split und es entstehen zwei oder mehr kleinere Polarwirbel.
In all diesen Fällen kann die eisige Arktisluft sich auch in bodennahen Schichten wenige Wochen später auf den Weg weit nach Süden machen – im Gegenzug allerdings auch warme Luft weit nach Norden vordringen. Der Luftmassenaustausch zwischen hohen und niedrigen Breiten nimmt zu. Und je mehr Wärme in die Arktis transportiert wird, desto weniger stabil ist der Polarwirbel. Die Wahrscheinlichkeit nimmt somit weiter zu, dass die kalte Arktisluft sich immer wieder mal weit nach Süden aufmachen kann.
Erwärmung des Ozeans kann Kältehochs an Land begünstigen

Ein weiterer Grund für beständige Kältewellen liegt vorrangig in der Erwärmung der globalen Ozeane und nicht zuletzt der nördlichen Ozeane wie Nordpazifik, Nordatlantik und dem arktischen Ozean. Im Winter führt das in hohen Breiten zu einem wachsenden Temperaturkontrast zwischen Land- und Ozeanoberfläche. Dies beeinflusst die Lage von Hoch- und Tiefdruckgebieten, mit mehr Tiefdruck über dem Ozean und mehr Hochdruck über Land. Im Winter bedeutet Hochdruck meist kaltes Wetter, da die Sonne kaum über den Horizont reicht und der Wärmeverlust somit größer ist als die Sonneneinstrahlung.
Doch auch die Stärke von Hochs und Tiefs wird durch die Erwärmung der Ozeane beeinflusst. Durch zunehmende Verdunstung enthalten maritime Luftmassen mehr Wasserdampf und damit mehr sog. latente Energie. Dadurch können Tiefdruckgebiete bzw. Stürme kräftiger werden und die Luft in ihrem Inneren steigt schneller auf. Da die Atmosphäre ein so gut wie geschlossenes System ist, muss die aufsteigende Luft aber auch an einem anderen Ort wieder absinken. Dort entsteht am Boden Hochdruck und so wird indirekt auch die Stärke von Hochdruckgebieten beeinflusst. In stärkeren Hochdruckgebieten gibt es oft weniger Wolken, die den Wärmeverlust begrenzen können, es kann also kälter werden. Im Sommer, wenn die Sonneneinstrahlung hoch ist, kann es dagegen sehr heiß und trocken werden.
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Situation im Nordatlantik zurzeit ähnlich wie bei El Niño
Durch diese Zusammenhänge könnte die schon seit Wochen andauernde extreme Kältewelle in Skandinavien und Russland also direkt mit den derzeit extrem hohen Meerestemperaturen im Nordatlantik zusammenhängen. Das ist sehr ähnlich wie die Dürre im Amazonas, die mit dem El-Niño-Phänomen, also den hohen Temperaturen im tropischen Ostpazifik zu erklären ist. Über dem Ozean herrscht besonders niedriger Druck und im Umkehrschluss über dem angrenzenden Land ein besonders hoher.
Die extremen Temperaturen im Nordatlantik könnten mit der andauernden Rekord-Eisschmelze in der Antarktis und einer daraus resultierenden Verlangsamung der atlantischen Umwälzströmung zusammenhängen. Ob dies tatsächlich so ist, wird die Forschung aber wohl erst in einiger Zeit mit Sicherheit beantworten können.
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(ukr)